Gestundete Würde. Die Arbeit als Pflegekraft.

22. März 2016 Lesezeit: Themen
Zeitmangel ist heutzutage ein generelles Problem. Dieser Mangel erstreckt sich leider auf viele Bereiche unseres Lebens. In einigen Berufsgruppen kann dies zu einer außerordentlichen Belastung mit fatalen Folgen führen. Besonders in der Alten- und Krankenpflege sind die Pflegekräfte oft maßlos überfordert. Schlechte Bezahlung und zu wenig Fachpersonal zwingt die Pflegekräfte oftmals zu Akkordarbeit. Leidtragende sind am Ende beide Seiten – Pflegebedürftige und Pflegekraft. Zeitmangel ist heutzutage ein generelles Problem. Gestundete Würde schreibt über die Arbeit als Pflegekraft.
Gestundete Würde. Zeitmangel ist heutzutage ein generelles Problem. Nils Müller

Die Haare sind noch leicht feucht, ganz seidenglatt. Ein Silbergrau von
besonderer Brillianz, fast wie der wache Verstand der alten Dame, die da im Strom der heißen Föhnluft sitzt und darauf wartet, dass die Pflegekraft das gewaschene Silberhaar bürstet und zu einem Dutt schneckenförmig auf ihrem Kopf zusammensteckt. Heute ist sein letzter Tag bei Frau Hagel1. Man hat ihm gekündigt, weil er wohl zu langsam ist, weil er die Leute nicht in den vorgegebenen zwanzig Minuten abfertigt wie Schlachtvieh. Bei Herrn Eiser1 braucht es eben solange es braucht. Er massiert auch mal steif gewordene Finger, besorgt die geliebten Weinbrandbohnen mit der zartbitteren Schokolade, oder führt ein Gespräch jenseits der Trivialität.

Oh, ersehnter Moment, wenn die heiße Luft am Nacken entlang den alten schmerzgeplagten Rücken hinunterfließt. Die Wonne spendende Wärme lässt den Gebrauchsschmerz von zweiundachtzig Jahren fast vergessen. Pflegekräfte wie ihn kann man zwar mit Pralinen entlohnen, aber nicht in Gold aufwiegen. Zum Abschied hört man den Bolero, fast weint man. Also dann. Man sieht sich sicher einmal wieder, schließlich passiert das ja immer zweimal im Leben. Die Tür fällt zu. Die Endgültigkeit gesenkten Hauptes hinnehmend, ist sie wieder allein, mit sich und der Last, eine halbe Ewigkeit allein zum vertrödeln zu haben. Die Langeweile rückt als kalte Gefährtin immer näher und lässt es nur beschwerlich zu, dass man frei atmet. Jetzt muss man sich die Erinnerung wieder für sich selbst bewahren.

Der nächste Tag beginnt plötzlich. Sechs Uhr in der Früh. Tür auf. Licht an. Antreten zum Appell. Verärgert über diese Unverschämtheit richtet sich Frau Hagel im Bett auf. Blinzelnd hat sie nicht einmal mehr Zeit, nach ihrer Brille zu tasten. Raus aus den Federn! Die nun folgenden neunzehn Minuten stehen ganz im Zeichen des militärischen Drills. Man stellt ein Tablett, auf dem sich ein langweiliges Frühstück, bestehend aus zwei Scheiben Graubrot und einem winzigen bisschen Margarine befindet, auf dem Nachtschrank ab, schiebt die noch schlaftrunkene Patientin in die an den Wohnraum angrenzende Nasszelle und entledigt sie ihrer Nachtkleidung. Schnell dreht man das Wasser auf, ganz gleich, ob es heiß oder kalt aus der Brause kommt. Anfänglichen Ausweichversuchen begegnet man mit hartem festhalten der dünn gewordenen Oberarme. Morgen kommt der Friseur, da werden die Haare abgeschnitten, das kann doch schließlich niemand verlangen, dass das Pflegepersonal stundenlang Haare trocknet! Man trägt notwendige Salben auf, Creme oder gar Parfüm verschwenden nur kostbare Zeit, für wen soll sie hier auch duften?

Anziehen und in den Sessel setzen, der Fernseher beginnt zu brüllen, obschon Frau Hagels Gehör einwandfrei funktioniert, die Fernbedienung wirft man ihr in den noch klammen Schoß – mehr lässt der Zeitplan nicht zu. Zeit ist Geld.

Später, zur festgesetzten Mittagszeit, reißt man die Tür wieder auf, verfrachtet die, beim unkonzentrierten, weil verunsicherten Lesen in einem Buch überrumpelte Patientin, ohne jede Erklärung des Geschehens in einen Rollstuhl und bringt sie in den Speiseraum zum Mittagstisch, wo ähnlich verstörte Menschen auf ihr viel zu heißes Essen, was sie in kürzester Zeit einzunehmen angehalten sind, warten. Im übrigen sind diese Menschen Frau Hagels einziger Kontakt zur Außenwelt. Ein Gespräch kommt aber auch unter den Leidensgenossen nicht zustande, denn nach dem Essen ist vor dem Essen.

Man bringt sie, kaum hat sie die Mahlzeit hastig hinuntergeschlungen, schon in ihr Zimmer zurück. Auf ihren fragenden Blick konstatiert man ihr, dass sie die verbleibende Zeit gefälligst im Bett zu verbringen hat. Abwehrversuchen begegnet man mit harten Griffen, sogar einen Klaps gibt man der alten Dame, damit sie spurt. Verstört ergibt sich Frau Hagel, die sich nach einem Schlaganfall ohnehin nicht mehr wehren kann und folgt den Anweisungen der sichtlich überforderten Pflegekraft. Die Vorhänge werden zugezogen und die Tür fällt, alle Hektik hinauskehrend, ins Schloss. Das rätselhafte Medikament, das man ihr gab, beginnt zu wirken, denn alles fühlt sich so unwirklich an.

Unsanft wird die Bettdecke weggezerrt und gibt den mit Gurten fixierten Körper frei. Nachdem diese entfernt sind, könnte sie sich doch ruhig ein bisschen beeilen, schließlich ist sie nicht allein hier. Mit steigender Wut holt man die alte Frau unsanft auf die Beine. Es geht doch. Ab in den Speisesaal. Zum Glück lässt einem der Vormund der Patientin freie Hand.

Nach dem Abendessen vollzieht sich das grausame Abfertigen von neuem. Man gibt ihr wieder das Medikament, aus dem der Schlaf der Patienten, das sterile und koordinierte Arbeiten der Pflegekräfte gemacht ist, zerrt und reißt an ihr, bis das Nachthemd übergeworfen werden kann. Was soll das? Sie kann nicht schreien. So bricht man also Menschen, denkt Frau Hagel, als sie wieder allein gelassen wird, mit sich unter den straffen Gurten und darauf wartend, dass die Zeiten besser werden, wie schon so oft in ihrem Leben.


1  Die Personen im Text sind frei erfunden.

 

Erstellt von Karin Demming in Zusammenarbeit mit Nils Müller, Autor mit dem Anliegen mit seinen künstlerischen Texten seine Generation zu erreichen | Linkedin folgen

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