Der Weg zurück zum guten Leben
Interview mit Katja, René und Sandro
Könnt Ihr Euch kurz vorstellen?
Katja:
Klassischerweise würde ich wohl sagen »Ich heiße Katja, bin 30 Jahre alt, Mama einer wunderbaren Tochter und arbeite gerade als Teilhabeassistenz mit einem Jugendlichen mit Autismusspektrumsstörung.« Die Frage dahinter: Was macht mich aus? Ein großer Meilenstein, der meinen Lebensweg in eine maßgeblich neue Richtung gelenkt hat, ist mein Weltwärtsdienst in Indien, denn dort hatte ich das große Privileg, erste ganz bewusste Einblicke in die Kehrseite des Kapitalismus zu erhalten. Seit dem beschäftige ich mich kritisch mit den Systemen unserer Gesellschaft im Außen sowie meinen Glaubenssätzen, Erziehungsmustern und Denkstrukturen im Inneren, versuche Lösungsansätze zu finden und mit Herzblut neue Strukturen zu leben. Schlagworte meines derzeitigen Lebens: Tierrechtsarbeit, Foodsharing, bedürfnisorientierte Elternschaft, LessWaste, Dankbarkeit, Hundeerziehung! Außerdem mag ich gutes (veganes) Essen, gemeinsam Musik machen, kreativ-gestalterisch Arbeiten, Brettspiele, den Wald, Yoga und Tanzen.
René:
Hallo, ich heiße René. Gerade fällt mir eine gute Vorstellung ein bisschen schwer, weil in meinem Leben aktuell sehr viel im Fluss ist. Ich beschäftige mich seit mehreren Jahren intensiv mit Permakultur und baue mir in diesem Bereich eine Selbstständigkeit auf. Dabei versuche ich den mittleren Weg zwischen Enthusiasmus, Begeisterung und Überforderung zu finden und lerne gerade viel darüber, auf mich selbst Acht zu geben.
Sandro:
Das Leben hat mir ein paar Aufgaben gestellt, die mich zwar sehr fordern, mir aber auch enorme Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Dankbarkeit, positives Denken und Gleichmut übe ich täglich, um mit den Herausforderungen umgehen zu lernen. Als Paradiessuchender in einer auf Verwertungslogik aufgebauten Welt, pendele ich mich ein zwischen Weltschmerz und Begeisterung für positiven Systemwandel. Mein wunderbares vierjähriges Kind ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich beschäftige mich mit Lebensmittelherstellung, DIY, Pflanzenvermehrung und Nachhaltigkeit. Außerdem interessiere ich mich sehr für psychologische & energetische Medizin, irgendwo zwischen Spiritualität und Wissenschaft. Ich liebe Brettspiele, vor allem stundenlange Strategiespiele.
Was ist Eure Motivation ein Gemeinschaftsprojekt zu gründen?
Katja:
Das Kernelement meiner Motivation ist vermutlich die Sehnsucht, mich nicht mehr fremd zu fühlen in der Welt, die mich umgibt. Mich mit Menschen auf einer tieferen Ebene zu verbinden und die gemeinsame Vision lebendig werden zu lassen. Als Alternative zu einer in großen Teilen destruktiven Gesellschaft. Als Heilung für die Wunden, die ein auf Defiziten aufgebautes System bei uns hinterlassen hat.
René:
Seit mehreren Jahrzehnten befinden wir Menschen uns in einem Film. In diesem Film wird uns gesagt, dass wir uns immer mehr vereinzeln sollen, damit wir mehr konsumieren können. Natürlich stecke auch ich noch zu guten Teilen in diesem Film fest. Für mich ist die Motivation daher, diesen Trend für mich ganz persönlich umzukehren und den Weg zurück zum guten Leben zu finden. Fernab von Statussymbolen, ständiger Verfügbarkeit von Allem und Convencience-Produkten. Ich wünsche mir, wieder wirkliche Begegnung mit anderen zu leben und den Prozess des Individuums hin zur Gemeinschaft zu erfahren.
Sandro:
Durch die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich etablierten Systemen habe ich gemerkt, dass sie nicht nur nicht funktionieren, sondern es auch schon viele großartige Alternativen gibt. Eine stabile und gleichzeitig dynamische, wie auch flexible Gemeinschaft bietet für mich schon eine ganze Reihe von Antworten auf die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte. Ich möchte meine Energie und Lebenszeit in eine positive Zukunft investieren und nicht weiter an ein System verschwenden, das alles dafür tut sich nicht ändern zu müssen. Für, statt gegen etwas!
Wo und wie habt Ihr vorher gelebt?
Katja:
In Frankfurt, Kassel, Darmstadt (Hessen), Indien, Australien;
In einer Stadtwohnung, mitten auf dem Land, in einem Kinderheim, auf einem Lebenshof;
Alleine, Gemeinschaftlich, Mit Partner, Mit Kind, Mit Hunden, Frettchen, Kühen, Schweinen, Ziegen, ...
René:
Derzeit lebe ich noch alleine in einer Zwei-Zimmerwohnung in Frankfurt. Ich genieße den Wald vor meiner Haustür und die schönen Schrebergärten um mich herum. Natürlich genieße ich auch den Zugang zu allen kulturellen Angeboten der Stadt, auch wenn der gerade eingeschränkt ist. Ich mache mir Gedanken darüber, wie ich mein Bedürfnis nach Kultur in einer zukünftigen Gemeinschaft erfüllen kann. Denn Museen, Techno-Clubs, Theater, Kino und Sauna sind für mich wichtige Quellen von Erholung und Kreativität. Für die Zukunft hoffe ich, weiter draußen auf dem Land zu leben, wo auf Äckern, Wiesen und Forst vielfältige Permakultur-Landschaften gedeihen werden.
Sandro:
In den letzten 16 Jahren habe ich in keinem Lebensraum länger als zwei Jahre verbracht. Egal ob alleine im Bauwagen, in WG´s, mit Frau und Kind oder in Gemeinschaft mit 13 Personen. Umziehen ist zwar auch anstrengend, bietet aber eine ganze Menge neuer Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten. Die verschiedenen Wohnformen gepaart mit regionalen Unterschieden haben mir einen diversen Erfahrungsschatz beschert.
Was wollt Ihr für eine Gemeinschaft? Was ist Euch wichtig?
Katja:
Ich trage dieses Bild in mir von einem Ort, an dem Menschen zusammenkommen, um gemeinsam Ideen für eine bessere, lebenswerte Zukunft zu entwickeln und zu leben. An dem die verbindenden Elemente im Fokus liegen und die trennenden in den Hintergrund rücken bzw. mit Mut und Wohlwollen betrachtet und bearbeitet werden. An dem wir lebendig sein können, umgeben von und im Einklang mit gesunder Umwelt. Dabei ist für mich die offene, wertschätzende, achtsame Kommunikation ein wichtiger Faktor, sowohl mit dem eigenen Selbst als auch mit dem Gegenüber bzw. der Gruppe.
René:
Ich wünsche mir eine Gemeinschaft, die aus der Fülle heraus denkt. Eine Gemeinschaft, die den Prozess wertschätzt und aktiv gestaltet. Eine Gemeinschaft, die keine Angst vor Krisen hat und sich auf umfassende Transformation einlässt, wenn sie nötig ist. Ich wünsche mir eine Gemeinschaft, die sich lebendig anfühlt.
Sandro:
Ich wünsche mir, dass wir in der Gemeinschaft unsere Entscheidungen am Wohl des großen Ganzen ausrichten, mit den Veränderungen aber bei uns im kleinen anfangen. Reflektieren, hinterfragen, neu denken, Ideen ent- und verwerfen. Sich gegenseitig fordern, fördern und unterstützen.
Wie habt Ihr Euch gefunden?
Katja und Sandro haben sich 2015 erstmals digital kennengelernt und 2017 kam die gemeinsame Tochter zur Welt. Alle drei lernten 2018 René im Rahmen des Humusfestivals kennen, ein alternatives Wandelfestival, auf dem sich auch diverse UtopistInnen tummelten. Später entwickelte sich aus gemeinsamen Werten und Weltanschauungen die Idee, ein Leben zu gestalten, das den Wandel auch im Alltag lebbar macht und nicht nur wenige Wochen im Jahr eine Auszeit von der »echten Welt« darstellt.
Was muss ich mitbringen, um bei Euch mitzumachen?
Zu erst braucht es den Wunsch, andere Lebenskonzepte für sich entdecken zu wollen. Auch die Erkenntnis, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen nachhaltigere und achtsamere Alternativen braucht, ist wahrscheinlich eine Voraussetzung. Neben der Bereitschaft sich ständigem Wandel anzupassen, der Fähigkeit sich selbst zu reflektieren und eigene Meinungen und Entscheidungen zu hinterfragen, ist Kompromissbereitschaft hilfreich. Unabdingbar ist allerdings eine offene und ehrliche Kommunikation, nur so können Bedürfnisse wahrgenommen werden und eine Integration aller stattfinden. Zeig dich und du wirst gesehen!
Wie seid Ihr vorgegangen – von der ersten Idee bis Stand heute?
Die ersten drei Treffen haben wir mit Dragon Dreaming gearbeitet und uns unsere Gemeinschaft »erträumt«. Aus diesem Träumen ist dann eine konkrete Vision entstanden, mit der wir aktuell mit Hilfe von bring-together auf MitstreiterInnensuche sind. Wir versuchen die Tools und Ressourcen zu nutzen die uns zur Verfügung stehen und pflegen eine Kultur des Prozessvertrauens. Alles was ist, darf erstmal sein und alles kommt zur richtigen Zeit! Unsere aktuelle Gesprächsmethode kommt aus der Soziokratie, deren Organisationsstruktur wir uns auch für später vorstellen können.
Was gab oder gibt es für Hürden?
Katja:
In jedem lebendigen Beziehungskonstrukt treten unterschiedliche Individuen mit eigenen Glaubenssätzen, Gedankenkonstrukten, Vorerfahrungen und Ideen auf eine sehr intensive Art aufeinander. Als Menschen kommen wir an bestimmten Punkten an Grenzen, die wir dann hinterfragen und bearbeiten dürfen und die natürlich Einfluss haben auf das »System Gemeinschaft«. Abgesehen davon spielt bei uns die räumliche Trennung eine große Rolle, die aber gleichzeitig auch große Chancen für Entwicklung mit sich bringt.
René:
Wir haben uns von Anfang an dazu entschieden, kein Objekt zu suchen, nicht zusammen zu ziehen sondern erst den Prozess in Gang zu bringen. Das hat natürlich den Nachteil, dass viele Treffen und Zoom-Calls und eine Organisationsstruktur erstellt werden wollen. Das Ganze war mit Sicherheit manchmal anstrengend, wobei uns Dragon Dreaming und Soziokratie sehr geholfen haben. Auch unsere erste Krise vor einigen Wochen hat das Projekt deutlich ausgebremst. Aber wir haben, so nehme ich das wahr, einen gemeinsamen Nenner: Das innere Bedürfnis, Gemeinschaft zu leben. Manchmal ist es in der einen Person stärker vorhanden als in der anderen Person. Manchmal nehmen individuelle Themen bei einer Person einen größeren Stellenwert ein. Aber insgesamt gibt es in uns allen eine Kraft, die uns dazu antreibt immer wieder zum Thema Gemeinschaftsbildung zurückzukehren.
Sandro:
Das gemeinschaftliche Leben ist ein Gegenentwurf zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mit ihrer zunehmenden Individualisierung und »Ein-Klick-Verfügbarkeit«. In Gemeinschaft muss die eigene Bequemlichkeit Abstriche machen, was den ein oder anderen Widerstand hervorruft. Den Unterschied zwischen Bequemlichkeit und Bedürfnis herauszufinden ist eine große Aufgabe. Die beiden gegeneinander abzuwägen und Kompromisse zu Gunsten der Gemeinschaft zu machen, eine weitere. Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber sind wichtige Elemente, um Bedürfnisse herauszufinden. Wenn man es dann noch schafft diese wertfrei und klar zu kommunizieren, dann ist jedes Hindernis zu meistern.
Wo seid Ihr jetzt angekommen?
In der Regel haben wir zwei Termine pro Woche. Wir haben einen festen Abend, an dem wir telefonieren und alle aktuellen Themen besprechen. Egal ob kommende Termine, Strukturfragen, Grundsatzthemen oder Konflikte / Störungen.
Der zweite Termin ist je nach dem:
— ein persönliches Treffen, zum gemeinsamen Kochen, Spielen, Quatschen….
— Biographieabende, um die Geschichte und das Sein gegenseitig besser kennenzulernen
— öffentliche Themenabende, an denen irgendwelche gemeinschaftsassoziierten Themen ohne Ergebniserwartungen besprochen werden, um den Austausch zu fördern und die eigenen Blickwinkel zu erweitern
— KennenlernZooms für Neuinteressierte sind zukünftig auch regelmäßig angedacht
Was möchtet Ihr anderen mit auf den Weg geben?
Katja:
Die Welt entwickelt sich weiter, weil Menschen ausbrechen aus den Normen und Dinge neu denken. Das was wir heute tun, ändert die Welt von morgen, also bleib dran! Glaub an dich! Such dir Menschen, die dich unterstützen, anstatt Zweifel in dir zu sähen. Such dir Menschen, die bereits Wege gegangen sind und von denen du lernen kannst. Such dir Methoden und Strukturen, die zu dir passen und dir bei der Umsetzung helfen. Und ganz wichtig, werde dir ganz klar darüber, was und wohin du willst! »Lass dich nicht unterkriegen. Sei frech und wild und wunderbar!« Astrid Lindgren
René:
Fang nicht mit einem Ort an. Setz den Prozess an erste Stelle und gehe es langsam an. Wir hatten von Anfang an so viele Dinge zu klären, dass ein gemeinsamer Ort mich persönlich einfach überfordert hätte. Denn das kann viele Ängste wecken, vor allem wenn es um Geld und Verbindlichkeiten oder ungeklärte Besitzverhältnisse geht. Such dir einen Prozess aus, mit dem mindestens eine Person Erfahrung hat. Beispiele dafür wären Dragon Dreaming oder Theory U. Such dir eine Organisationsstruktur, mit der du arbeiten kannst, wie zum Beispiel Soziokratie oder das Systemische Konsensieren (falls ihr basisdemokratisch arbeiten möchtet). Falls du davon nicht so viel weisst, besuche im Vorfeld Seminare oder nimm eine*n Prozessbegleiter*in hinzu.
Sandro:
Die Welt braucht Menschen die Veränderung nicht nur wollen, sondern auch bereit sind, was dafür zu tun. Vielleicht hast du noch keine klare Vorstellung davon wo du hin möchtest, da wäre meine Empfehlung dir bestehende Gemeinschaften anzuschauen, Plattformen / Foren zu nutzen um dich zu vernetzen, mit Menschen in deinem Umfeld zu sprechen und sie zum Thema Gemeinschaft zu befragen und dir Infos über Medien, wie z.B. Bücher und Videos einzuholen. Manchmal ist das Loslaufen wichtiger als ein finales Ziel oder einen fertigen Plan zu haben. »Machen ist wie wollen, nur krasser!«
Was sind Eure bisherigen Erfahrungen mit bring-together?
Wir haben auf unser Profil eine große Resonanz erhalten, was uns sowohl gefreut, als auch etwas überrascht hat. Meist merkt man aber recht schnell, ob jemand nur mal so die Temperatur checkt oder wirklich Interesse hat mehr vom Projekt zu erfahren. Auch die Vielfalt der Menschen, die Kontakt aufgenommen haben, ist uns positiv aufgefallen. Vor allem die Altersstruktur ist sehr breit gefächert, aber auch die Hintergründe und Geschichten sind sehr divers.
Was wünscht Ihr Euch für die Zukunft?
Aktuell versuchen wir uns in der Erweiterung der Gründungsgemeinschaft und wünschen uns natürlich, dass wir es schaffen die Menschen mit ihren Bedürfnissen zu integrieren. Wir möchten nachhaltig und stabil wachsen, um dann mittelfristig einen gemeinsamen Lebensort zu finden. Neben der Gemeinschaft ist uns das Netzwerken ein Anliegen, deshalb wollen wir auch in Zukunft sowohl mit bestehenden Gemeinschaften Bande knüpfen, als auch mit Gründungsprojekten oder Wandelinitiativen.
Erstellt von Mary-Anne Kockel | Linkedin folgen