Inklusives Wohnen in der Gemeinschaft

23. Februar 2023 Lesezeit: Lebensstile
Tobias Polsfuß hat viel Erfahrung mit inklusivem Wohnen in Gemeinschaften. Im Interview erzählt er über unterschiedliche gemeinschaftliche Wohnformen und wie diese Menschen mit Behinderungen in ihrem Alltag unterstützen können. [inkl. Video]
Inklusives Wohnen bring-together im Interview mit Tobias Polsfuß von Wohn:sinn.
@ Tobias Polsfuß. Inklusives Wohnen

Kannst du dich kurz vorstellen?

Ich bin Tobias, ich bin Geschäftsführer von WOHN:SINN. Wir sind ein Netzwerk für inklusives Wohnen im deutschsprachigen Raum, also Wohnformen, wo Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und in Gemeinschaft mit anderen Menschen zusammenleben.

 

Wie kam es zu der Gründung?

Ich habe selber knapp 8,5 Jahre in einer inklusiven WG gewohnt, bin da selber eher durch Zufall eingezogen und fand es dann aber so cool, dass ich mir dachte es sollte doch irgendwie mehr bekannt werden und auch neugierig war, wo es sowas sonst noch gibt. Und so entstanden Stück für Stück irgendwie Kontakte bundesweit, ich habe viele Projekte besucht und daraus hat sich dann unser Bündnis gegründet. Durch eine Förderung der Aktion Mensch Stiftung haben wir seit 2020 auch ein hauptamtliches Team, das für WOHN:SINN berät und das Thema voranbringt.

 

Und was genau ist eure Hauptaufgabe?

Also, ich würde sagen, das sind so vier Tätigkeitsfelder. Einmal sind wir der Ansprechpartner für alle, die so ein Wohnprojekt starten wollen. Das heißt wir informieren, wir haben unser Online-Portal, wo wir viele Informationen bereitstellen, es gibt auch einmal im Monat eine Infoveranstaltung für Einsteiger, die in das Thema mal reinschnuppern wollen. Darüber hinaus für Projektgruppen oder Organisationen bieten wir Beratungen an, und versuchen Leute Stück für Stück durch den Gründungsprozess zu führen. Neben diesen beiden Tätigkeiten im Bereich Information und Beratung machen wir auch Forschungsprojekte zusammen mit Partnerhochschulen und bringen gemeinsam mit anderen Verbänden das Thema politisch voran.

 

Hast du eine bestimmte Expertise, die du vorstellen möchtest?

Meine Expertise ist wahrscheinlich die zum inklusiven Wohnen. Also dadurch, dass ich selber so gewohnt habe, aber auch durch die vielen Kontakte und Erfahrungen aus unserem Netzwerk kann ich, glaube ich, einiges dazu sagen, wie Menschen mit Behinderungen derzeit viel noch wohnen und wie wir uns das vorstellen, dass es besser sein könnte, und was wir dafür eben tun.

 

Welche Herausforderungen gibt es für Betroffene?

Ja, also das Ding ist, dass gerade Menschen mit sogenannten geistigen und Mehrfachbehinderungen sehr stark eingeschränkt sind bei der Gestaltung ihrer Wohnsituation. Es gibt dazu keine ganz konkreten Zahlen, aber so pi mal Daumen kann man sagen, dass von 8 erwachsenen Personen mit sogenannten geistigen Behinderungen etwa vier wirklich lange Zeit in der eigenen Herkunftsfamilie leben, also bei den eigenen Eltern, teilweise auch bei Geschwistern. Und von der übrigen Hälfte sind teilweise ungefähr 75 % in einer Einrichtung, also in einem Wohnheim oder sowas Ähnliches. Und nur ein Achtel wohnt sozusagen selbstbestimmt mit ambulanter Unterstützung.

Wir setzten uns eben dafür ein, dass dieses Achtel immer größer wird und das, was im ambulant betreuten Wohnen auch häufiger ein Problem ist, dass dort nur Menschen wohnen, die einen geringen Unterstützungsbedarf haben, also wo ab und zu mal einmal in der Woche jemand vorbeischaut, dass sich das erweitert. Also, dass jeder Mensch mit Behinderung inklusiv ambulant betreut wohnen kann. Und was auch ein Problem in diesem Bereich ist, Leute vereinsamen, weil sie nicht genug eingebunden sind in die Gemeinschaft drumherum, eben auch da Konzepte zu finden, dass Leute in einer aktiven Gemeinschaft, gerade auch dann mit Menschen ohne Behinderung zusammenleben.

 

Was müssen die Bewohner:innen für diese Wohnform mitbringen?

Das hängt sehr davon ab, wie das Konzept ist. Manche arbeiten nach so einem Wohnen-für-Hilfe-Konzept, da ist man dann als Mitbewohner ohne Behinderung Assistent im Alltag, für die Unterstützung der Bewohner mit Behinderung zuständig. Dann ist natürlich ein gewisses Verantwortungsbewusstsein wichtig. Eine gewisse Sensibilität schadet grundsätzlich nicht, auch wenn man ohne Wohnen-für-Hilfe-Modell arbeitet. Dass man einfach aufeinander achtgibt, füreinander da ist. Ja und einfach so eine Offenheit dafür und die Bereitschaft, sich auch auf Augenhöhe zu begegnen. So ist es kein Aufopfern füreinander oder so, aber bestimmt ein gerne miteinander leben wollen und sich im Alltag nicht irgendwie aus dem Weg gehen, sondern gegenseitig unterstützen oder einfach mal zusammen ein Feierabendbier trinken oder was auch immer.

 

Agiert ihr deutschlandweit?

Genau, also unser Bündnis gibt sich das Ziel, im ganzen deutschsprachigen Raum aktiv zu sein. Durch unsere Förderung, die jetzt deutschlandweit ist, sind wir vor allem im Bundesgebiet tätig, in unseren Regionalstellen in Bremen, Dresden, Köln und München und haben sozusagen keine eigenen Projekte, sondern wir sind einfach Multiplikatoren und Berater:innen für das Thema.

 

Sind eher jüngere oder ältere Menschen für diese Wohnform offen?

Also in den klassischen inklusiven WGs ist das wirklich häufig die Klientel Studierende, Auszubildende, junge Leute vor allem. Die machen auch im Moment vor allem noch einen Großteil der Projekte in unserem Netzwerk aus. Wir merken aber auch schon einen großen Trend oder eine große Nachfrage nach, zum Beispiel Hausgemeinschaften oder Haus- und Hofgemeinschaften, oder auch einfach gemeinsam wohnen und sich unterstützen im Quartier, also in der Nachbarschaft, und da würde ich sagen ist es dann altersmäßig wieder sehr gemischt. In einer Wohngemeinschaft ist klar, ist es dann irgendwie eine Wohnform für Singles, und dann später ist es bei vielen so, dass es dann Mitte 30 spätestens nicht mehr so interessant ist. Aber genau da hat es dann ja aber die Stärke von Hausgemeinschaften, dass man in einer eigenen Wohnung lebt, aber sich vielleicht trotzdem wünscht, dass es einen Gemeinschaftsraum gibt und man dort gemeinsam kochen kann oder für einen Spieleabend oder was auch immer zusammensitzt. Das ist dann vom Altersdurchschnitt wieder sehr viel bunter gemischt.

 

Ist für inklusives Wohneneine bestimmte Ausbildung oder ein Studium vorausgesetzt?

Fachliche Begleitung ist schon wichtig, aber die Fachkräfte wohnen dann in der Regel nicht dort, sondern dann gib es zum Beispiel eine Kooperation mit einem ambulanten Dienst, die dann irgendwie vorbeikommen, sich sozusagen um die fachlichen Aspekte kümmern. In der Regel braucht es auch immer eine Person, zum Beispiel einen Sozialpädagogen oder eine Sozialpädagogin, die so eine Art koordinierende Rolle hat, die Besprechungen moderiert, die auch schaut, was die Personen brauchen, die sich selber vielleicht nicht selber äußern können. Also sowas finden wir auch immer wichtig, auch die Moderation mit Konflikten. Aber dafür ist es wichtig, dass die Fachkräfte nicht dort wohnen, sondern dann auch nach Hause gehen können und nach einem Konflikt, den sie dann vielleicht ausgetragen haben, auch sagen können „Gut und jetzt habe ich auch meinen Abstand und die Distanz dazu und hänge da nicht so drin wie die Leute, die dort wohnen.“

 

Gibt es andere Möglichkeiten,wie Betroffene im Alltag unterstützt werden können?

Eine Möglichkeit ist eben, in so ein Projekt einzuziehen, da ist dann einfach je nach Konzept festgelegt, wie so die Aufgaben sind. In meiner alten WG war das wirklich sehr breit, von Freizeitbegleitung zu irgendwelchen Terminen, dass man gemeinsam was unternommen hat. Es ging aber auch hin zu pflegerischen Tätigkeiten, also Unterstützung beim Duschen oder Zähneputzen oder so. Man kann natürlich einziehen, in solche Projekte, man kann aber auch oft sich ehrenamtlich engagieren, zum Beispiel wenn es so eine Wohngemeinschaft in der Nachbarschaft gibt, dann war das in meiner WG immer so, wenn jemand im Urlaub war, krank war oder wir gerade einen Platz oder eine Stelle unbesetzt hatten, dass wir dann nach Aushilfskräften auch gesucht haben. Also so kann man sich gut engagieren. Sonst denke ich, was so Quartiersprojekte angeht oder Hausgemeinschaften, da gibt es auch viele Möglichkeiten, vielleicht irgendwie einen offenen Spieleabend im Quartierstreff zu organisieren oder andere Möglichkeiten, einfach um miteinander in Kontakt zu kommen.

 

Über bring-together matchen Wohnprojekte mit Interessenten.

Was denkst du, wäre eine gute Eigenschaft, um zu signalisieren,dass ein Projekt offen für inklusives Wohnen ist?

Das Einfachste ist wirklich das Interesse direkt hinzuschreiben, ich glaube dann kann man gleich sehen „Ah ok cool, da ist das Interesse dafür da“. Denkt aber natürlich nicht jeder jetzt sofort mit. Insofern geht es einfach, wie du schon gesagt hast, um Offenheit. Es geht jetzt nicht um Vorerfahrung, es geht nicht darum, ein Superheld zu sein, der sich so sehr um andere sorgt oder so. Also wenn wir Mitbewohner gesucht haben, haben wir immer geguckt nach authentischen Menschen, die Bock haben, da mitzumachen, sich einzubringen, die aber auch ihre Grenzen setzen können und die Grenzen von anderen respektieren. Also es ist glaube ich einfach wichtig authentisch zu sein, zu sagen, was man möchte und dann einfach gegenseitig zu gucken, ob es passt. Und das sind ja jetzt nicht nur Eigenschaften, die mit Behinderungen zu tun haben, sondern auch, ob die Chemie stimmt, ob man gemeinsame Hobbys hat und solche Sachen.

 

Wenn du einen Wunsch hättest …?

Ja, das könnte man jetzt auf verschiedenen Ebenen beantworten. Ich beantworte es einfach mal im Politischen. Wir wünschen uns natürlich viel mehr Unterstützung für solche Wohnformen, wir merken, dass immer noch sehr viel Fördermittel in Heime und ähnliche institutionelle Wohnformen für Menschen mit Behinderungen fließen, und ich glaube da ist ein Umbruch im Gange, das nehme ich auf jeden Fall wahr, aber der könnte definitiv noch konsequenter sein, damit mehr Projekte entstehen können. Am Ende geht es einfach darum, ein Wohnen zu schaffen, was einfach so normal wie möglich ist, und gar nicht sich da zu verkünsteln in den besten Konzepten.

Natürlich ist das auch viel unsere Aufgabe, die Konzeptentwicklung zu begleiten, zu schauen, was ist schlüssig. Aber am Ende geht es einfach darum zu ermöglichen, dass Menschen mit Behinderungen so wohnen können, wie alle anderen auch. Und vielleicht ein Stück weit, es geht immer um Win-win-Situationen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt auch gestärkt wird.

Jeder von uns kann irgendwann mal im Laufe seines Lebens eine Behinderung erwerben, durch einen Unfall oder Alterserscheinungen oder wie auch immer. Oder man kriegt selbst ein Kind mit Behinderung, dann ist man froh, wenn es tolle Möglichkeiten gibt, wo man mitten im Leben wohnen kann. Und da würde ich mir noch mehr politische Unterstützung wünschen.

Inklusives Wohnen

Inklusives Wohnen in Deutschland - bring-together Gemeinsam Wohnen
© WOHN:SINN.

Arbeitsfelder von WOHN:SINN

Unterstützung von inklusive Wohnen  - bring-together Gemeinsam Wohnen
© WOHN:SINN.

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Schau dir das vollständige Interview mit Tobias an. 

Auf bring-together findest du eine Vielzahl an Wohnprojekten, die offen sind für ein gemeinschaftliches und inklusives Leben. Entdecke unsere Kollektion Inklusives Wohnen.

 

Der Inhalt ist in Kooperaion mit WOHN:SINN entstanden.
WOHN:SINN ist ein Bündnis für inklusives Wohnen im deutschsprachigen Raum. Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und in aktiver Gemeinschaft mit anderen leben können, zum Beispiel in inklusiven WGs, Hausgemeinschaften oder Nachbarschaften.

 

Erstellt von Louisa Edelmann | Linkedin folgen

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