Vereinbarkeit von Familienleben, Arbeit und Engagement
Interview mit Eva Stützel
Kannst Du Dich kurz vorstellen?
Ich bin Eva Stützel, 56 Jahre jung und habe das Ökodorf Sieben Linden mit aufgebaut. Inzwischen lebe ich genau die Hälfte meines Lebens in diesem Projekt – vor 28 Jahren bin ich nach meinem Diplom in Psychologie dazugestoßen!
Was war Deine Motivation ein Gemeinschaftsleben zu führen?
Seit ich angefangen habe, mir Gedanken zu machen, wie ich mein Leben gestalten will, war mir klar: Ich möchte so leben, dass ich mit meinem Lebensstil möglichst wenig zur Zerstörung unseres Planeten beitrage. Außerdem wollte ich mein Leben so gestalten, dass ich nicht zwischen Familienleben, Arbeit und Engagement unterscheiden muss – ich mag es, wenn sich die Sphären vermischen. Und genau das bietet so eine Gemeinschaft wie Sieben Linden – das ist für manche sehr herausfordernd, aber für mich in erster Linie ein Gewinn!
Wie bist Du zu Deiner Gemeinschaft gekommen?
Ich bin 1993 durch einen Aushang bei einem »Festival zur Rettung der Welt« auf das Projekt gestoßen. Damals gab es noch kein Internet, aber eine »Regionalgruppe Saarbrücken« des bundesweiten Projektes zum Aufbau eines selbstversorgten ökologischen Dorfes.
Jede Person, die zu Sieben Linden gekommen ist, hat eine andere Geschichte, wie sie dazu gekommen ist. Es gibt keine Standardantwort auf die Frage »Wie habt Ihr Euch gefunden?«
Wie seid Ihr zusammengewachsen?
Als ich zum Projekt kam, hatte es noch kein Zuhause. Es war lediglich eine bundesweit zerstreute Initiativgruppe. Wir haben uns wochenend- und wochenweise getroffen, abwechselnd an unseren Inhalten und Strategien und an uns als Individuen in Gemeinschaft gearbeitet.
Aufgenommen wurde ich nach einer gemeinsamen Selbsterfahrungswoche mit einem Psychotherapeuten als Begleiter. Von Anfang an gehörte es zur Projektkultur, dass wir dem Miteinander und der persönlichen Entwicklung und der konstruktiven Konfliktlösung große Aufmerksamkeit schenken.
Trotzdem sind wir dann erst richtig im Zusammenleben zusammengewachsen. Auch da haben wir uns von Anfang an Supervision und Begleitung eingeladen, um die entstehenden Konflikte konstruktiv zu lösen und eine echte Gemeinschaftskultur aufzubauen. Ohne diesen ständigen Fokus. auch auf die persönliche und die Gemeinschaftsentwicklung, wären wir vermutlich nicht an dem Punkt, an dem wir jetzt stehen.
Was gab es für Hürden?
Viele! Wir lebten von 1993 bis 1997 in einem Projektzentrum, das war eine Zwischenstation auf dem Weg zum eigentlichen Dorfprojekt. In der Zeit dort gab es viele Momente, in denen ich verzweifelte, und dachte, wir schaffen es nie, das eigentliche Ziel zu realisieren, da wir so viel vom Alltag im Projektzentrum abgelenkt wurden.
Diejenigen, die damals Eltern kleiner Kinder waren, gründeten »mal eben« eine Freie Schule in der Nähe des Projektzentrums. Das war einerseits toll und band andererseits viele Kräfte und ergab eine neue räumliche Bindung.
Viele Menschen sind dann wegen der Schule zu uns gezogen, und nicht wegen des eigentlichen Ziels. Das war beinahe aus den Augen verloren, bis eine kleine Gruppe dann wieder losging, um einen Ort dafür zu suchen.
Die Entscheidung für einen Standort 24 km von der Schule entfernt, sorgte dann für eine Art Teilung des Projektes – viele blieben lieber in der Nähe der Schule. Wir sind immer noch gut vernetzt, aber es sind eigentlich zwei unterschiedliche Netzwerke. So sind aus einer Wurzel zwei Projekte entstanden: ein alternatives, ländliches Netzwerk rund um die Freie Schule und unser ehemaliges Projektzentrum und das Ökodorf Sieben Linden.
Die nächste Herausforderung folgte dann kurz darauf: Während wir in Verhandlungen um den Bebauungsplan waren – eine Grundvoraussetzung für die Realisierung unseres Traumes – brachte die Kirche Sektenvorwürfe gegen uns auf. »Ökodorf bietet gefährlichen Raum für Sekten.« titelten beide Regionalzeitungen am gleichen Tag nach einer Pressemitteillung des Kirchenkreises. Der Vorwurf war an den Haaren herbeigezogen und trotzdem untergräbt so etwas natürlich das Vertrauen in ein Projekt, und wenn eine Gemeinde entscheiden kann, ob sie ein Projekt, gegen das so ein Vorwurf im Raum steht, bei sich haben möchte oder nicht, wird sie sich meistens dagegen entscheiden.
Zunächst sah es so aus, als hätten wir keine Chance auf Rehabilitation, die Verantwortlichen der Pressemitteilung weigerten sich, überhaupt mit uns zu sprechen.
Gerettet hat uns dann die Fürsprache von Hans-Jochen Tschiche, eines prominenten Pfarrers und Vertreters des Neuen Forums der DDR, der den Bischof der Landeskirche dazu aufforderte, die Vorwürfe gegen uns zu untersuchen. Als sich dann die Rechtsbehörde der Kirche einschaltete und nachforschte, was der Hintergrund der Vorwürfe war, wurde schnell klar, dass sie unhaltbar waren, und dass der einzige faktische Hintergrund der Vorwürfe war, dass wir in einem Netzwerk mit einer anderen Gemeinschaft waren, die die Weltanschauungsstelle der Ev. Kirche damals als gefährliche Psychogruppe brandmarkte. Das ZEGG (Zentrum für Experimentelle GesellschaftsGestaltung) hat viele Jahre länger gebraucht, sich von diesem Stempel zu befreien, aber heute wird es von der Kirche nicht mehr in der Liste der gefährlichen Psychogruppen gelistet.
Der Kirchenkreis nahm seine Vorwürfe nach ca. 3 Wochen zurück und sandte extra seinen Weltanschauungsbeauftragten zu uns, um unserer Gemeinde zu erklären »Man muss keine Angst vorm Ökodorf haben.«
Der Bebauungsplan war die nächste Herausforderung, die wir zu meistern hatten. Denn das Gelände war ursprünglich großteils landwirtschaftliche Fläche und Wald. Wir haben es geschafft, dort einen Bebauungsplan genehmigt zu bekommen. Und in den Jahren seit 1997 haben wir gezeigt, dass menschliche Ansiedlung und ökologische Qualität eines Geländes kein Widerspruch sein muss, denn wir haben in den 24 Jahren, in denen wir dort leben, das Gelände von Agrar-Wüste und Kiefern-Monokultur zu einem vielfältigen Gelände mit vielen Hecken, kleinen Teichen, Wiesen, Brachland, Öko-Gartenbau, Obstbäumen, etc. gestaltet, und die Artenvielfalt dort deutlich erhöht.
Das waren jetzt alles die Herausforderungen der 90er Jahre quasi bevor wir in Sieben Linden richtig loslegten. Natürlich hatten auch die Jahre in Sieben Linden ihre Herausforderungen:
Die ersten Jahre im Bauwagen, mit sehr beengten und kalten Gemeinschaftsräumen in der ehemaligen Futterküche des Stalles.
Die ständige Frage, wie wir die Projekte, die wir realisieren wollen, finanzieren – denn die Gründungsgruppe saß nicht gerade auf einem dicken finanziellen Polster, sondern bestand eher aus Menschen mit wenig Kapital, aber dem großen Willen, sich für ihre Ziele zu engagieren.
Es gab immer wieder Konflikte um das Thema »Zuzug« – manche wollten schnell wachsen und viele neue Leuten aufnehmen, manche nur sehr langsam oder sogar gar nicht. Auch die Frage, wen wir aufnehmen, führte immer wieder zu Konflikten.
Lange beschäftigte uns auch das Thema »Tierhaltung«, da wir dazu keine Festlegung hatten, und ein Projekt aus sehr engagierten Veganer:innen und bekennenden (Wenig- und Bio-)Fleischesser:innen und vielen Vegetariern waren. Wir wollten ein Dorf mit weitgehender Selbstversorgung aufbauen, und für die Veganer:innen wäre das Halten und Töten von Tieren für die Lebensmittelproduktion aber ein absoluter Tabubruch gewesen.
Über Jahre war diese Frage das Hauptkonfliktthema. Wir haben uns dann in einem langen, extern begleiteten Prozess auf eine Lösung geeinigt, in der beide Seiten des Konfliktes zugunsten des Zusammenlebens mit Menschen mit einer anderen Weltanschauung auf einen Teil ihres Traumes verzichtet haben: Wir sind in Sieben Linden ein Dorf, in dem Veganer:innen und Menschen, die tierische Produkte essen, respektvoll miteinander leben wollen. Daher halten wir in Sieben Linden keine Tiere, die getötet werden, und wir sind aber explizit kein veganes Dorf, sondern es wird akzeptiert, dass es verschiedene Sichtweisen darauf gibt. Und es dürfen Tiere gehalten werden, die nicht getötet werden, so haben wir Alpakas, Bienen, Pferde und seit neuestem sogar Hühner.
Auch die Frage, wie wir bei einer größer werdenden Gemeinschaft die Beteiligung aller sicherstellen und Entscheidungen auf gute gemeinschaftliche Prozesse aufbauen, ohne uns dabei zu überfordern und insbesondere die Aktiven zu frustrieren, war immer wieder Thema und ist es gerade wieder. 2008 haben wir einen intensiven Prozess zur Änderung unserer Entscheidungsstrukturen geführt und ein Modell entwickelt, das sich 10 Jahre lang bewährt hat. Jetzt spüren wir seine Schwächen: Wir haben den Eindruck, unsere Strukturen passen nicht mehr richtig, aber es fehlt gerade die Kraft, sie zu verändern. Das ist eine aktuelle Herausforderung.
Und aktuell beschäftigt uns natürlich außerdem Corona – sowohl wirtschaftlich, weil eine wesentliche Einnahmequelle, der Seminarbetrieb, wegfällt, als auch inhaltlich, weil die Spaltung, die zum Thema durch die Gesellschaft geht, auch mitten durch unsere Gemeinschaft geht. All unsere Kompetenz in konstruktivem Umgang mit Konflikten hat uns nicht davor bewahrt, dass dieser Riss auch in der Gemeinschaft sehr spürbar ist. Wir ringen um Verständigung, um gemeinsame Lösungen für unsere Gemeinschaftsräume und im Infektionsfall. (Wir hatten jetzt einen ersten kleinen CoViD-Ausbruch mit 5 Infizierten)
Aber es ist nicht einfach …
Wer diese Herausforderungen liest, und den Gemeinschaftskompass kennt, der erkennt, wie diese Erfahrungen die Entwicklung des Gemeinschaftskompass und seiner sieben Aspekte geprägt haben: Nur dank der ständigen Pflege des Miteinanders von Individuen und Gemeinschaft haben wir die Herausforderungen gemeistert. Die Klarheit in der Intention fehlte uns häufig. Wir wollten zwar ein Ökodorf bauen, aber jede:r verstand etwas anderes darunter. Die Strukturen brauchten immer wieder Anpassung. Die Frage – wie finanzieren wir unsere Projekte? War eine der Praxisfragen, die uns beschäftigt haben. Viel Kompetenz sowohl im Bauen (Eigenleistung) wie in der Akquise von Fördermitteln und Öffentlichkeitsarbeit für die Akquise von Geldern von Unterstützern half.
Die Welt hätte uns mit dem Sektenvorwurf zerstören können, und sie unterstützte uns immer wieder mit Fördermitteln und Geldern von Unterstützer:innen – und durch unsere Gäste. Gerade bringt sie mit dem Corona-Virus und allen dazugehörigen Begleiterscheinungen nochmal eine ganz neue Herausforderung in unser Projekt. Lediglich der Aspekt Ernte des Gemeinschaftskompass hat keinen direkten Bezug zu den großen Herausforderungen, denen wir begegnet sind – aber er hat einen direkten Bezug zu den positiven Erlebnissen, die wir hatten. Denn ohne eine gesunde Kultur des Feierns, des Wertschätzens, des Freuens an den Zwischenerfolgen wären wir sicher ausgebrannt!
Was sind Eure (Handlungs-)Ziele oder Lebensweisen?
Wir haben uns mit dem Ziel zusammengefunden, ein Ökodorf zu bauen. Für mich heißt das: Ein Dorf, in dem möglichst alle Lebens- und Arbeitsbereiche möglichst nachhaltig organisiert sind. Wobei Nachhaltigkeit bei uns vier Dimensionen hat: Ökologisch, Sozial, Wirtschaftlich und Kulturell.
Wir achten sehr auf den ökologischen Fußabdruck unseres Lebens – sowohl im Konsum, wie im Bauen oder Reisen. Allerdings gibt es keine verbindlichen Vorschriften, so dass sehr zum Ärger mancher Mitbewohner:innen es doch ab und zu z.B. auch Urlaubsflüge aus Sieben Linden heraus gibt. Etwa 12 Autos sind in unserem gemeinsamen Carsharing.
Was uns auch sehr auszeichnet ist unsere gemeinsame Haushaltskasse, die 100% bio ist, sehr regional und uns alle versorgt. Wir können auch an 7 Tagen pro Woche 3 Mahlzeiten in Gemeinschaftsräumen essen, und wir können die gemeinsamen Lebensmittel auch in unseren privaten Küchen essen. Diese gemeinsame Essensversorgung prägt unsere Gemeinschaft und sorgt dafür, dass wir auch all das Gemüse, das in unserem Gartenbaubetrieb angebaut wird, auch abkaufen und verzehren!
Es gibt auch inzwischen in Sieben Linden sehr viele gemeinsame Freizeitangebote (teilweise gerade CoVid-bedingt nicht, aber es gibt ein Leben nach der Pandemie): Yoga, Tanzgruppen, Sauna, Disco, Spieleabende, Theatergruppe, viele Feste, spontane Aktionen, etc. Auch das prägt unser Gemeinschaftsleben.
Wir nehmen uns mehrfach im Jahr mehrere Tage mit externer Begleitung zum Arbeiten an unserem sozialen Organismus – diese Tradition haben wir nie gebrochen, und das sorgt dafür, dass wir trotz aller aktuellen Probleme immer noch ein großteils konstruktives und wohlwollendes Gemeinschaftsklima haben
Was ist Deine Rollel in Gemeinschaft?
Ich war aus heutiger Sicht Projekt-Mitbegründerin und bin diejenige, die am längsten im Projekt aktiv ist. Ich habe viele Jahre sehr aktiv mitgestaltet als Geschäftsführerin und Vorstandsfrau abwechselnd in verschiedenen unserer Organisationen.
Inzwischen habe ich mich aus der ersten Reihe der Aktiven weitgehend zurückgezogen und bin »nur« noch Aufsichtsratsvorsitzende unserer Genossenschaft. Und aktiv in der Öffentlichkeitsarbeit. Es ist wichtig dass die Gründergeneration auch mal zurücktritt und andere mehr ins Gestalten gehen.
Und trotzdem bin ich noch in vielen Diskussionen involviert.
Was möchtest Du anderen mit auf den Weg geben?
Gemeinschaft aufbauen ist nicht für alle etwas! Es braucht eine bestimmte Haltung dafür, sonst brennt man zu schnell aus. Es braucht ein ernsthaftes Interesse an anderen Menschen, eine Haltung, der Welt als Lernende zu begegnen, Konflikte nicht nur als überflüssige Nervereien, sondern auch als Lernchance zu begreifen, und echtes Interesse am Zusammensein (und damit auch der Reibung) mit anderen Menschen.
Und wenn Ihr Gemeinschaft aufbauen wollt, braucht Ihr Geduld und die Fähigkeit, auch den langen Weg dorthin als einen wesentlichen Teil Eures Lebens zu sehen. Wenn es nur um das Ziel geht, ist der Weg dahin oft zu steinig und langwierig, um ihn durchzuhalten.
Und, last, but not least. Damit er nicht zu steinig ist, und neue Initiativen nicht alle Fehler der Vorhergehenden wiederholen müssen, habe ich den Gemeinschaftskompass entwickelt und darin meine Erfahrungen systematisch analysiert und ausgewertet.
Mehr dazu kann man auf meiner Website nachlesen, in Seminaren bei mir erfahren oder in meinem Buch nachlesen!
Was wünscht Du Dir für die Zukunft?
Dass die Welt gemeinschaftlicher wird! Ich wünsche mir nicht, dass alle in gemeinschaftliche Projekte ziehen, sondern ich wünsche mir viel mehr »Gemeinschaftlichkeit« in allen Nachbarschaften, in allen Initiativen und überhaupt in unserer Gesellschaft!
Erstellt von Mary-Anne Kockel | Linkedin folgen