Die Demenz-Wohngemeinschaft
Seit dem Film „Honig im Kopf“ von und mit Til Schweiger ist die Krankheit Demenz kein Tabu-Thema mehr. So humorvoll wie die Krankheit im Film auch dargestellt wurde, für Betroffene und deren Angehörige ist das Leben mit Demenz meist alles andere, als eine Komödie. „In Deutschland leiden inzwischen 1,5 Millionen Menschen an dieser Erkrankung, weltweit sind es sogar knapp 47 Millionen.“ Diese Zahlen gehen aus dem Welt-Alzheimer-Bericht 2015 hervor und sie steigen rasant an.
Dennoch funktioniert unser Verdrängungsmechanismus vorzüglich und grundsätzlich schieben wir die Gedanken eines möglichen „langsamen Vergessens“ in unserem eigenen späteren Leben, so lange wie möglich vor uns her. Bis auf diejenigen, die mit den nackten Tatsachen schon jetzt konfrontiert sind, weil bereits ein Mitglied ihrer Familie an Demenz erkrankt ist. Für die Angehörigen ist es nicht nur schwer damit fertig zu werden, vielen macht es auch Angst, denn sie sind oft nicht genügend auf diese Situation vorbereitet. Für den Betroffenen selbst ist der Beginn einer Demenz sowieso eine Katastrophe. Es ist ja nicht so, als würde man von heute auf morgen sein Gedächtnis verlieren, nein, es ist ein langsamer Prozess, den man zu Beginn durchaus noch wahr nimmt.
Die heutigen Lebensumstände und Lebensweisen und nicht zuletzt die gute Versorgung von medizinischer Seite lässt uns immer älter werden. Grundsätzlich wünschen sich wahrscheinlich die meisten ein langes Leben. Aber was ist, wenn der Kopf nicht mehr mitmacht? Wie gehen Angehörige damit um, wenn ein Elternteil nicht mehr weiß, was er vor ein paar Minuten gemacht hat, er die eigenen Kinder nicht mehr erkennt, man den Betroffenen nicht mehr alleine lassen und er den Alltag nicht mehr alleine bewältigen kann?
Die Familien, die sich ihrer Angehörigen annehmen, weil sie sie nicht in ein Heim geben möchten, gehen dabei oft über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaus. Bei dem Spagat zwischen Familie, Pflege und Beruf bleiben sie selbst meistens auf der Strecke. Und was tun, wenn man weit weg wohnt und für seinen Lebensunterhalt sorgen muss? Wo gebe ich meine erkrankte Mutter oder den Vater hin? Wo habe ich ein gutes Gefühl und wo kann der Betroffene überhaupt in Würde und selbstbestimmt leben?
Als die ersten Demenz-WGs vor ein paar Jahren den Durchbruch schafften, konnten sich die wenigsten noch etwas darunter vorstellen. Inzwischen hat sich diese alternative Wohnform längst durchgesetzt. Der Unterschied einer Demenz-WG zu einem Pflegeheim besteht darin, dass die Bewohner ihren persönlichen Tagesablauf selbst bestimmen und ihre Lebensgewohnheiten trotz ihrer Krankheit beibehalten können.
Letzte Woche habe ich eine Demenz-WG der Advita Pflegedienst GmbH in Leipzig/Wahren besucht.
Dort wohnen 12 Bewohner unterschiedlicher Pflegestufen unter einem Dach. Ich kam pünktlich zum Nachmittagskaffee und die Bewohner saßen allesamt gemütlich in Ihrem gemeinsamen Wohn-und Esszimmer und aßen leckeren Kuchen. Auf den ersten Blick sahen die meisten sehr vital aus. An zwei Tischgruppen saßen einige in ihren Rollstühlen, andere unterhielten sich miteinander und alles wirkte auf mich harmonisch. Dass der Gesprächsstoff für Aussenstehende nicht immer nachvollziehbar ist, spielt hier sowieso keine Rolle. Ich spüre sofort ein sehr warmes und vor allem herzliches Gefühl zwischen den Bewohnern und den Schwestern. Sie bilden für mich eine Einheit, sie sind ein Teil dieser Gruppe, einfach für ihre Bewohner da, kümmern sich, reden mit ihnen, passen auf, dass nichts verschüttet wird. Einige benötigen ein wenig Hilfe beim Essen. Der Umgang miteinander ist sehr respektvoll. Nach dem Kaffeetrinken stehen die einen auf, gehen ein bisschen spazieren, andere machen es sich in der Fernsehecke gemütlich. Ein paar Damen sind eifrig dabei Servietten zu falten. Die Schwester hantiert inzwischen in der offenen Küche, immer mit dem wachen Blick auf Ihre Schützlinge.
Ich lehne mich während meiner Beobachtung entspannt zurück und genieße die Wohnzimmeratmosphäre. Der Raum ist hell und freundlich, an den Fensterbänken stehen Zimmerpflanzen, auf den Tischen frische Blumen und die Einrichtung ist genau an diese Generation und deren Wünsche angepasst. Die Sofas und Fernsehsessel sind gemütlich arrangiert, in einer Ecke steht ein großes Regal mit vielen Büchern, die persönlichen Dinge, wie ein altes Kaffeeservice oder ein nostalgisches Schaukelpferd geben dem Raum eine persönliche Note. An einer Wand hängt ein großer Kalender mit dem aktuellen Datum und zeigt durch ein passendes Bild die momentane Jahreszeit mit einem netten Tagesspruch.
Gemütliche und warme Atmosphäre anstatt unterkühler Gemeinschaftssaal.
Und dabei riecht alles nach frischer Wäsche. Die wird nämlich, ebenfalls wie zu Hause, vor Ort gewaschen und im eigenen Hauswirtschaftsraum getrocknet. Dafür gibt es auch eine Hauswirtschafterin, die den ganzen Tag dafür sorgt, dass alles glänzt. Ansonsten ist es wie in einer großen Familie, jeder macht etwas von allen anfallenden Arbeiten mit. Schließlich gibt es genug zu tun, denn die Bewohner haben neben den Gemeinschaftsräumen ihr eigenes Zimmer, vollständig mit persönlichen Möbeln und Sachen eingerichtet und selbst gestaltet. Je nach Lust und Laune können sich die Bewohner entscheiden, ob sie sich zurückziehen möchten, um in ihrem Zimmer lieber fernzusehen, Musik zu hören oder einfach nur ein Nickerchen zu machen. Jeweils zwei Bewohner teilen sich ein Badezimmer, insgesamt sind es 7 Bäder.
In dieser Wohngemeinschaft ist an alles gedacht und der Grundriss dieser Räumlichkeiten ist genau auf die Bedürfnisse dieser Menschen abgestimmt. Aber perfekt geschnittene Räume allein machen noch keine gute Wohngemeinschaft aus. Es ist die Art und Weise, wie man dort miteinander umgeht. Die Bewohner werden liebevoll von den Schwestern geherzt und umarmt. Pro Schicht sind immer 3 Schwestern für die Bewohner da und für die Nacht kümmert sich eine Dauernachtwache. Eine Rundumversorgung, um die Sicherheit der Bewohner gewährleisten zu können.
Und natürlich sitzen die Bewohner dort nicht den ganzen Tag tatenlos herum, wie auf einem Abstellgleis. An einer Pinnwand hängt das Kreativprogramm, selbstverständlich als Angebot und nicht als Zwangsverordnung. So wird Gedächtnistraining, Basteln oder auch Spazierengehen als willkommene Abwechslung sehr gerne angenommen.
Herzlich Willkommen sind natürlich auch die Angehörigen. Sie können sich in den Räumlichkeiten so frei bewegen, als wären sie in ihrem zu Hause. Und wie in jeder Wohngemeinschaft, gibt es auch für ein gutes Zusammenleben in dieser WG allgemeine Regeln. Damit sich jeder, der zu Besuch kommt, zurecht findet, hängt im Eingangsbereich eine große Tafel mit der „Häuslichen (Un)ordnung“.
Kurz bevor ich mich wieder verabschieden möchte, wird eine Bewohnerin von Sanitätern aus dem Krankenhaus zurück gebracht. Ihr herzlicher Empfang berührt mich und ihre Freude „wieder zu Hause“ zu sein, ist ihr anzusehen. Sie fragt mich ein wenig irritiert, wer ich sei und sogleich versucht sie mir ihr Erlebtes aus dem Krankenhaus zu schildern. Man brauchte ein wenig Phantasie, um ihr zu folgen und kurz darauf hatte sie ihren Schmerz schon wieder vergessen. Eine Schwester nahm sie liebevoll an die Hand und brachte sie zu ihrer Freundin, die auf der gemütlichen Couch gerade noch ein Mittagsschläfchen machte. Während ich ging, steckten die beiden schon die Köpfe zusammen.
Auf dem Nachhauseweg gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Die Frage „was wäre, wenn meine Mutter, die hunderte von Kilometer von mir entfernt wohnt, an Demenz erkranken würde?“ kann ich jetzt sofort beantworten. Dann denke ich über meinen Mann nach und stelle mir die gleiche Frage. Wie würde ich damit fertig werden, wenn ich merke, dass etwas nicht mehr mit ihm stimmt, er sein Gedächtnis verliert? Wie gehe ich denn damit um und vor allem, hätte ich ein schlechtes Gewissen ihn wegzugeben? Zu Beginn so einer Krankheit sicherlich noch nicht, aber ab wann wäre denn der richtige Zeitpunkt? Erst dann, wenn ich nicht mehr ruhig schlafen kann? Wenn ich das Haus nicht mehr verlassen kann, ohne das Gefühl, dass etwas schlimmes passiert? Oder doch schon vorher, weil er mich nicht mehr erkennt? Mir wird bewusst, dass man tatsächlich schon frühzeitig über alle Eventualitäten mit seinem Partner sprechen muss, damit jeder die Chance hat, selbst zu entscheiden, so lange er das noch im Besitz seiner geistigen Kräfte tun kann, was mit ihm in einem solchen Fall passieren soll. Vorsorge treffen, auch für mich…….ach, und da ist er wieder, der Verdrängungsmechanismus! Aber ja, auch mich könnte es irgendwann einmal treffen. Meinem Partner möchte ich es nicht zumuten, schon allein deshalb, weil ich gar nicht weiß, ob er dann überhaupt noch in der Lage ist, mich zu betreuen. Und wäre es richtig diese Aufgabe meinen Kindern zu überlassen? Nicht mit einer Selbstverständlichkeit, denn wer weiß, wo sie später leben werden. Ich möchte meinen Kindern nicht die Entscheidung überlassen, was gut für mich ist. Im Grunde habe ich die Antwort schon für mich gefunden. Ich bin beruhigt, dass es die Möglichkeit gibt, selbstbestimmt auch mit Demenz leben zu können. Eine Demenz-WG ist für mich in jedem Fall eine Option, mit der ich jetzt schon gedanklich würdevoll leben kann.
Erstellt von Karin Demming | Linkedin folgen