Schöne Aussichten fürs Alter
Neue Nachbarschaften und erfolgreiche Ideen für die Betreuung Älterer
Vor etwa zehn Jahren habe ich in der norditalienischen Region Emilia-Romagna ein erfolgreiches Pilotprojekt für die Betreuung älterer Menschen kennengelernt, das eine Perspektive für viele europäische Regionen aufzeigt. Das winzige Tiedoli in Italien mit damals 32 Einwohnern, zur Kreissstadt Borgotaro gehörend, war vom Aussterben bedroht. Es bot jedoch gute architektonische Voraussetzungen, um hier einen Modellversuch zu starten.
Halbverfallene Häuser im Ortszentrum, die sich im Besitz der Kirche befanden, wurden in sechs barrierefreie Appartments für 1-2 BewohnerInnen unterteilt und saniert. Die Kosten der Sanierung waren mit etwa 350 000 Euro für alle sechs Appartments überschaubar . Gegenüber der Appartments wurde eine Sozialstation errichtet. Hier sollte die Hilfe für die älteren Bewohner bei Bedarf 24 Stunden am Tag abrufbar sein. Das Konzept der Siedlungsgemeinschaft „Case di Tiedoli“ sah vor, dass die BewohnerInnen individuell über die Betreuung entscheiden können, die täglich in Anspruch genommen wird. Bewohnerin Marcella lebt im Sommer auf ihrem eigenen Hof und braucht nur in der kalten Jahreszeit Unterstützung, wenn ihr Haus oft eingeschneit ist. Sie genießt die Gesellschaft der anderen, während sie in den warmen Monaten genug Hilfe von der Familie erfährt. Im Sommer wird ihr Appartment dann für Kurzzeitpflege genutzt. In Tiedoli leben die BewohnerInnen so, wie es den eigenen Gewohnheiten und Vorlieben entspricht.
In dem kleinen Dorf Tiedoli wurden die alten Menschen im wörtlichen Sinn in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Ihr Leben findet nicht ausgegrenzt von gesellschaftlichen Abläufen, sondern im gelebten Miteinander der Generationen statt. Die Kosten für Miete und Betreuung betragen etwa 900 Euro. Vertragspartnerin für den Wohnraum ist die Kommune, die Pflege wird von der Kooperative Aurora geleistet. Dieser Betrag kommt auch durch die relativ niedrige Sozialmiete von 150 Euro pro Appartment zustande. Auch wenn diese Zahlen nicht eins zu eins auf deutsche Verhältnisse übertragbar sind, so wurden in Tiedoli starre Betreuungsstrukturen erfolgreich aufgebrochen.
Von Anfang an war es Ziel des Projekts, durch den Verbleib der alten Menschen im Dorf auch das Leben für die junge Generation wieder möglich zu machen. Wir vergessen meist, dass Infrastruktur entzogen wird, wenn alte Menschen ins Altenheim gehen. In den letzten Jahren sind junge Familien nach Tiedoli gezogen und haben Arbeit in der ökologischen Landwirtschaft oder in der Dienstleistung gefunden. Die „jungen Alten“ die Generation der heute Fünfzig- bis Sechzigjährigen, zieht es zusehends hierher, mit der Gewissheit, im Ort Sicherheit im Alter zu finden. Zahlreiche aufgegebene Höfe wurden in den letzten Jahren saniert. Es gibt einen „Pronto-Bus“ in das zwanzig Minuten entfernte Borgotaro, es gibt einen Kulturverein mit kleinem Café, der dörfliche Feste ausrichtet und Dreh- und Angelpunkt des Dorflebens ist. Das Projekt Tiedoli ist bis heute deshalb so einmalig, weil durch die alten Menschen im Dorf auch Arbeitsplätze für junge Leute - nicht in Pflegeberufen - entstanden sind.
„Le case di Tiedoli“ sind ein erfolgreiches „Quartierskonzept“, das auf vier gleichberechtigten Pfeilern beruht: Der Kommune, dem ambulanten Pflegedienst, der Pfarrgemeinde und dem Ehrenamt.
Drei grundsätzliche Botschaften gehen von diesem Projekt aus: Wo die älteren Menschen in die Mitte der Gesellschaft gerückt werden, kann ein neues Zusammenleben der Generationen entstehen. Mit den Defiziten des Alters kann man leben, wenn unterstützende Hilfe bereit steht. Und schließlich: Wo der politische Wille da ist, ist alles möglich.
Erstellt von Karin Demming in Zusammenarbeit mit Dorette Deutsch, Journalistin und Buchautorin | Linkedin folgen