Autarkie und Gemeinschaft in der Rummelsburger Bucht
10:00 Uhr morgens. Zu dieser Zeit findet auf der Station AuGe, dem Wohnprojekt in der Rummelsburger Bucht in Berlin, das morgendliche Meeting der Bewohner des Schiffes statt. An diesem sonnigen Montagmorgen versammeln sich die fünf Bewohner des ehemaligen Freibeuters im Büro der Wohn- und Wirkensgemeinschaft auf dem oberen Deck des Schiffes. Die Türen des sonst zum Ufer offenen Büros werden geschlossen und jeder nimmt einen Platz rund um den mittig im Raum platzierten Schreibtisch ein. Markus-Peter Ibrom, der Leiter des Projekts, zündet eine Kerze an, zieht eine kleine Klangschale auf einem blau-roten Samtkissen zu sich heran und schlägt mit einem Holzschlägel dagegen. Nachdem der weiche, klare Ton der Klangschale verklungen ist nimmt er die Klangschale und legt sie mit der Öffnung nach unten auf das Kissen. Er lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und schließt die Augen. Alle schweigen. Einige tun es dem bärtigen Architekten gleich und schließen die Augen. Nicht wissend, wie ich die Situation einordnen soll, lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Die andächtige Stimmung passt nicht zur funktionalen, blechernen Einrichtung des Büros. Dennoch dominiert ein ruhiges, entspanntes Gefühl den Raum. Nach einer Weile öffnet Markus die Augen und lächelt in die Runde. Es ist ein aufforderndes, fragendes Lächeln. Es läutet die Stimmungsrunde ein, die fester Teil eines jeden Morgen- und Abendmeetings auf dem Schiff ist und jedem Bewohner die Möglichkeit geben soll das eigene Befinden im Beisein der anderen zu reflektieren.
Vom Egoismus zum Altruismus
Das morgendliche Meeting, das Besinnen auf den Ton der Klangschale und die Stimmungsrunde sind nur einzelne Elemente, in denen sich der reflektive Charakter der Wohn- und Wirkensgemeinschaft manifestiert. „Wir haben uns als Gemeinschaft entschieden reflektiv zu sein und nicht therapeutisch. Anstatt jemandem zu helfen, zeigen wir ihm, wo er ist und wenn er Hilfe braucht, dann wird er sich schon an uns wenden“ , beschreibt Markus das Zusammensein auf dem Freibeuter und bringt damit das Selbstverständnis der Gemeinschaft auf den Punkt. Auf der Station AuGe wird der Begriff „Gemeinschaft“ mit neuer Bedeutung gefüllt und als Forschungsinteresse formuliert. Station AuGe- das steht für Autarkie und Gemeinschaft. Für Markus sind diese beiden Begriffe unmittelbar miteinander verzahnt: „Gemeinschaft ist ein Stück der Autarkie. Die soziale Autarkie. Ab einer bestimmten Größe der Gemeinschaft bist du vom sozialen Netz einer größeren Gesellschaft unabhängig“. Er stellt klassische Beziehungskonstellationen in Frage und sieht in einer festen sozialen Bezugsgruppe eine Alternative. Der Architekt, der früher selber in einer klassischen Paarbeziehung gelebt hat, berichtet mir von einem Gefühl der Leere und der darauf folgenden Erkenntnis, dass ein einziger Partner die soziale Gruppe, die er als unerlässlich für die Persönlichkeitsentfaltung des Individuum betrachtet, nicht ersetzen kann. Basierend auf dieser Einsicht entstand das Konzept der Wohn- Wirkensgemeinschaft und der Gemilie. Die Gemilie (Gemeinschaft Familie) stellt im Gegensatz zur WWG eine lebenslangen Zusammenschluss mehrerer Menschen dar, die sich bewusst für diese Art des gemeinschaftlichen Zusammenlebens entschieden haben. Bis heute forscht Markus zusammen mit den Mitglieder der WWG und der Gemilie daran, wie sich dieses alternative Verständnis von Gemeinschaft in der Praxis umsetzen lässt.
Die Gemeinschaft lebt von Unterschieden
Die Konzepte der WWG und der Gemilie sind an eine stark vergeschlechtlichte Vorstellung von Gemeinschaft gekoppelt. Vor vielen Jahren fing der Architekt mit dem Tango tanzen an und berichtet mir von seinen ersten Eindrücken. „Damals habe ich eine starke Sehnsucht gespürt. Die Männer wollten Mann sein und die Frauen Frau.“, beschreibt er seine damaligen Beobachtungen. Für ihn sind Charaktereigenschaften männlich oder weiblich konnotiert. Durch die gesellschaftliche Vereinzelung, die von den Menschen fordert weibliche und männliche Anteile in sich zu kombinieren, um ein selbstständiges Leben führen zu können, entfernen sich die Menschen von ihrem eigenen Geschlecht: „Die Menschen müssen sowohl die eigene Frau sein als auch der eigene Mann. Wenn du alles selber machst musst du sowohl lieb zu dir sein, aber auch zielstrebig. Das sind Eigenschaften zwei verschiedener Gender“, erklärt er mir. In dieser Auflösung der klassischen Vorstellung von Geschlecht sieht Markus eine Quelle der Unzufriedenheit. Damit stellt er sich gegen aktuelle politische Tendenzen, die die Auflösung von geschlechtlichen Kategorien fordern. Die Gemilie und die WWG soll Männern und Frauen Raum geben, sich ihrem Geschlecht entsprechend in das gemeinsame Projekt einzubringen. Er erkennt essentielle Unterschiede zwischen Mann und Frau, die sich insbesondere auf deren Verhalten in Gruppen beziehen. Aus diesem Grund gibt es auf der Forschungsstation getrennte Schlafbereiche für Männer und Frauen. „Wir haben für uns erkannt, dass die Begegnung zwischen Mann und Frau dann besonders schön ist, wenn sie sich den angenehmen Themen widmet. Männer und Frauen funktionieren gerade in Gruppen so unterschiedlich, dass es oft zu Konflikten kommt. Wenn man diese Dinge aber auslebt und Mann und Frau sich nur noch begegnen, um die Unterschiede zu leben, dann bereichert das einander.“, führt er aus, während er mir die Kajüten der Männer auf dem oberen Deck des Schiffes zeigt. Die Einrichtung ist recht spartanisch. Die Betten sind selbst gebaut aus dicken Holzpfählen. Die vorherrschende Farbe der Bettbezüge und Einrichtungsgegenstände ist grau. Ein warmes, schickes Anthrazit.
Autarkie hat viele Gesichter
Autarkie definiert sich auf der Station AuGe jedoch nicht nur über den sozialen Aspekt. Zukunftsorientiert soll das große Schiff, dessen Form an zusammengesetzte bunte Legosteine erinnert, die autarke Versorgung all seiner Bewohner gewährleisten. Dies soll bewerkstelligt werden, indem alle Außenwände und Dächer, mit essbaren Naturalien bepflanzt werden. Auf dem Schiff gibt es außerdem Filteranlagen, die das Wasser aus der Bucht nutzbar machen. Nach seiner Nutzung wird es renaturiert und den Pflanzen, die sich einmal überall an den Wänden des Schiffs entlang ranken sollen, zugeführt. Zusätzlich werden Biotoiletten verwendet. „Wir zielen darauf ab uns in Kreisläufen zu bewegen und in Kreisläufen zu denken“, erklärt Markus das Grundprinzip der Forschungsstation. Er nimmt mich mit zu einem kleinen Grundstück am Ufer der Bucht, das direkt gegenüber des Schiffes ist. Er zeigt mir, wo die Inhalte der Biotoilette kompostiert werden, um damit später die Pflanzen zu düngen. Die Abfälle werden in großen Mülltüten luftdicht verschlossen und dann in grünen zylinderartigen Behältnissen gelagert. Als wir neben den Containern stehen überprüfen wir direkt auch die Geruchsentwicklung. Zum Glück gibt es keine.
Das Problem mit dem Liegeplatz
Denken in Kreisläufen- das macht nicht nur in Bezug auf die Interaktion mit der Natur Sinn sondern auch auf die mit der sozialen Umwelt. Frei nach dem Motto „So wie du in den Wald hineinrufst, so schallt es auch wieder heraus“ begegnen die Bewohner der Station AuGe den „Piraten“ der Rummelsburger Bucht und den Bewohnern der angrenzenden Ufer mit Freundlichkeit und Respekt. Rund um das große Schiff ankern kleine Schlauchboote oder größere Schiffchen, die sonst keinen Ankerplatz in der Rummelsburger Bucht finden. Dadurch herrscht tagtäglich geschäftiges Treiben auf der Forschungsstation, deren Tür für Besucher und Interessierte immer offen ist. Doch es gibt auch Konflikte auf dem Schiff. Die Bewohner der Station kämpfen momentan noch um einen gesicherten Liegeplatz. „Der Bezirk hat uns das Schiff als Störobjekt verkauft unter der Annahme, es kommt hier weg“, erklärt Markus. Leider gestaltet sich dies schwieriger als von Käufer und Bezirk ursprünglich gedacht, da das Schiff keinen eigenen Antrieb hat und wegen seiner Größe die vielen Berliner Brücken nicht passieren kann. Einen anderen Liegeplatz will der Bezirk auch nicht bestimmen. Jedoch haben sich auch hier Kompromissbereitschaft, Flexibilität und Offenheit für alternative Lösungen als Mittel erwiesen, um dem Berliner Stadtrat zumindest das Versprechen abzuringen, sich einer Lösung anzunähern. „Allerdings ist die Geschwindigkeit der Annäherung an Lösungen auf der politischen Ebene relativ gemütlich“, schmunzelt Markus in seinen Vollbart hinein. Dennoch schwingt in seiner Schilderung der Situation Gelassenheit und Zuversicht mit, dass die Station AuGe bleiben darf, wo sie ist oder ein lauschiges neues Plätzchen am Ufer der Rummelsburger Bucht findet.
Der letzte Tango
Zum Abschluss meines Recherchetages auf der Station AuGe gibt es abends statt des täglichen Meetings eine kleine Kostprobe des Tangoarchitekten. Zusammen mit den fünf Bewohnern der Station versammeln wir uns im unteren Teil des Bootes. Hier soll zukünftig eine Tanzfläche für Tangokurse entstehen. Der große Raum ist noch nicht ausgebaut, der Fußboden ist provisorisch mit Linoleum belegt und überall liegen noch Baumaterialien herum. Dennoch ist es ein besonderer Raum. Er ist nach hinten offen, sodass man einen direkten Blick auf das Wasser der Rummelsburger Bucht hat. Die Abendsonne taucht alles in ein warmes, goldenes Licht. Dort, wo sich die Sonne in den Wellen der Bucht bricht, glitzert das Wasser. Wir setzen uns im Halbkreis um Markus herum und er fängt an, uns von der Geschichte des Tangos zu erzählen. Vom Argentinien des 19. Jahrhunderts, von Gauchos, die vom Land kamen und in der Stadt ihren Jahreslohn verdienten, indem sie ihre Waren verkauften. Von dunklen, verrauchten Saloons und Prostituierten, die die Gauchos um den Finger wickelten und mit ihnen tanzten. Einen weichen, wiegenden Tanz, dessen Takt die von der Schönheit der Damen beseelten Gauchos vorgaben, ohne seine Schritte zu kennen. Ein Tanz, der dennoch von Hingabe und Leidenschaft gezeichnet war. Als wir anfangen zu tanzen und uns Markus langsam an die ersten Schritte heranführt, fällt es mir erst schwer, mich auf die ungewohnte Musik und die männliche Führung einzulassen. Doch je mehr ich mich dem starken, leidenschaftlichen Rhythmus hingebe, desto mehr nimmt mich der Tanz in seinen Bann. Während über der Rummelsburger Bucht langsam die Sonne untergeht, tanzen wir zusammen einen letzten Tango. Der letzte Takt der Musik läutet das Ende eines Tages ein, der anstrengend und magisch zu gleich war und mir noch lange zu denken geben wird.
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Erstellt von Karin Demming in Zusammenarbeit mit Laura Dittmann, Redakteurin | Linkedin folgen