Wohnen in Gemeinschaft – Jugendzentrum für Erwachsene
Interview mit dem Wohnprojekt Bodensee
Könnt Ihr Euch kurz vorstellen?
Jacqueline
55 Jahre alt, Lebensgefährtin von Ralph, kreativ, emotional, impulsiv, offen, direkt, hilfsbereit. Ich backe, koche, nähe, (gestalte), dekoriere gern.
Ralph
60 Jahre, Unternehmensberater im Bereich Qualitätsmanagement und Prozessoptimierung. Weltweite Projekte und daher internationale Erfahrung, daher weiß ich dass die Welt bunt ist und unsere überwiegend materiell gut organisiert ausgerichtete Welt nicht nur Vorteile hat.
Anita
Ich bin dieses Jahr 60 Jahre alt geworden und von Beruf gelernte Bürokauffrau. Mein erwachsener Sohn und meine beiden Enkelkinder, 6 und 4 Jahre alt, leben in Berlin. Manchmal ist das ein weiter Weg nach Berlin, aber andererseits auch immer wieder erfüllend vom Allgäu in eine Großstadt zu reisen. Ich arbeite seit 6 Jahren in der Kunsthalle Isny und bin dort ausgesprochen glücklich. Jeden Tag der Kunst zu begegnen, verändert die Sichtweise des Alltags.
Carmen
Ich bin 63 Jahre, Musiklehrerin, seit dem Umzug nach Wangen in (Corona)-Rente, lebe seit 20 Jahren mit Jürgen in einer Partnerschaft, habe zwei Töchter. Ich bin gerne in der Natur unterwegs (wir haben eine siebenjährige Labradorhündin).
Jürgen
66 Jahre alt, Lebensgefährte von Carmen, Bauingenieur, Rentner, Vater von 2 Töchtern und 2 Söhnen. Ich liebe kreative und handwerkliche Dinge und schöpfe viel Inspiration aus der Schönheit und Vielfältigkeit der Natur. Malen, Basteln, Musik, Tanz und Offenheit für Neues sind weitere Hobbys. Zur Fitness tragen unsere Labradorhündin Senta und Aktivitäten mit der Wohngemeinschaft bei.
Was ist Eure Motivation ein Gemeinschaftsprojekt zu leben?
Jacqueline
Selbstreflexion, wachsen, lernen, gemeinsam leben und Projekte umsetzen, Ressourcen sparen und Teilen
Ralph
Die in Deutschland bevorzugte individuelle Wohnform hat sehr viele negative ökologisch und soziale Auswirkungen. Ein hoher Ressourcenverbrauch und eine zunehmende Vereinsamung der mit einem exzessiven Kaufverhalten und häufigem Urlaub begegnet wird. In der Gemeinschaft wollen wir gemeinschaftlich besser leben. Die Idee ist ein »Jugendzentrum für Erwachsene«. Das hält jung, macht Spaß und gibt hoffentlich die Impulse die man in der Politik vermisst. Nicht nur reden, sondern handeln ist der Ansatz. Auch nicht warten, bis die Politik es organisiert. Wir haben uns ganz bewusst ohne Fördermittel organisiert, denn was gut ist muss sich selbst tragen. Als MIET-Wohnprojekt ist es unser Ansatz die Mieten dauerhaft bezahlbar zu halten.
Anita
Vor zweieinhalb Jahren kam ich zum ersten Mal nach Elitz zu Ralph und Jaqueline. Ich wurde durch eine Annonce auf das Wohnprojekt aufmerksam. Im Anschluss besuchte ich gleich das damalige Wohnprojekttreffen. Für mich war es unmittelbar im ersten Moment klar, das ich hier mein Zuhause finden könnte. Der Gedanke mit anderen in einem großen Haus zu leben, war mir schon lange bewusst.
Ralph und Jaqueline haben für mich die Natürlichkeit des Zusammenlebens leicht gemacht. Wir lachen viel, gestalten den Garten gemeinsam und alles was draußen und drinnen im Hause zu meistern ist.
Im Sommer ist es besonders schön, weil wir oft zusammen kochen oder grillen und am großen Tisch draußen gemeinsam essen. Jeder nimmt den anderen wahr und wir sind in der Zwischenzeit als gemeinsames Team wirklich gut gewachsen. Wir treffen uns zum Spazieren gehen, Spielabend oder Kino, Konzerte, Theater usw.
Mit Carmen und Jürgen bin ich eng verbunden. Wir brauchen uns nur anzusehen und wissen wie es dem anderen geht. Das ist besonders und fühlt sich sehr Zuhause an. Wir können andererseits aber auch unglaublich albern zusammen sein. Eine gute Portion Eigenhumor ist für mich auch immer eine Bereicherung in einem großen Haus.
Nach zweieinhalb Jahren und eigentlich auch schon zuvor bin ich hier angekommen. Es tut gut mit anderen sein Leben zu teilen und trotzdem seine Privatsphäre geschützt zu wissen. Natürlich gehört zu einem Wohnprojekt auch Verantwortungsbewusstsein, Vertrauenswürdigkeit, Freundlichkeit und Kommunikationsfähigkeit um in einer entspannten Atmosphäre sein zu können. Aber, es ist so glaube ich unkomplizierter als man oft denkt in einer Gemeinschaft zu leben.
Carmen
Unser gemeinsamer schon länger gehegter Wunsch, unsere besten Jahre nicht alleine in einem Haus zu verbringen, brachte uns nach Schnupper-Wochenenden und längerem Schnupperwohnen im April 2020 hierher ins Wohnprojekt.
Eine Gemeinschaft hält lebendig, motiviert, fordert auch, und das hält jung, und gemeinsam ein Haus zu bewohnen, ist auch förderlich für einen guten und bewussten Umgang mit Ressourcen. Dass es hier ein Miet-Wohnprojekt ist, war für uns auch ein entscheidendes Kriterium.
In unserer Gemeinschaft hat jeder seine individuelle Wohnung, es kann also jeder seine Türe zumachen. Aber es gibt viel Platz in unseren Gemeinschaftsräumen, wo wir uns dann treffen zum Frühstücken, Spielen, Abendessen, Geburtstagfeiern, Tanzen, Quatschen… auch mit Besuch…
Wir machen gemeinsame Spaziergänge, Ausflüge, Werkeln im Garten oder am Haus…dass alles in Balance… wer keine Lust hat, macht eben nicht mit.
Jürgen
Um lebendig zu bleiben, sich nicht in einer eigenen Welt einzukapseln (Tür zu Technik), waren Carmen und ich uns einig, das Thema Wohngemeinschaft anzugehen, zu sondieren und auszuprobieren. Die sehr detaillierte, offene und mit vielen Erfahrungen klar beschriebene Homepage des Wohnprojekt Bodensee, ist uns dabei sofort ins Auge gefallen. Viele beschriebene Erfahrungen haben sich dabei auch mit vielen meiner Lebenserfahrungen und Vorstellungen gedeckt.
Mir war auch bewusst, dass so einige Lernfelder und Herausforderungen auftauchen werden. Mit respektvollem und tolerantem Umgang und der Bereitschaft in Kommunikation zu treten, auch bei Differenzen, zu klären, sich einzulassen, ergibt sich die Möglichkeit aneinander und sich selbst zu wachsen. Dass seinen Neigungen entsprechend sich jeder einbringen kann.
Weiterhin gefällt mir, dass die Wohneinheiten inklusive Nebenkosten vermietet werden und wir mit ressourcenschonendem Verhalten auch die Nebenkosten beeinflussen und im Griff halten. Jeder darf sich seinen Neigungen entsprechend und je nach Zeit und Lust, sich einbringen.
Spontan verabreden wir uns auch zu Spieleabenden, zum Grillen, Spaziergängen, Ausflügen, Teilnahme an Veranstaltungen usw. nach Lust und Laune ob zu zweit oder zu mehreren.
Wo und wie habt Ihr vorher gelebt?
Jacqueline
In Thüringen aufgewachsen, mit Eltern und Großeltern zusammen gelebt, früh geheiratet, dann alleinerziehende Mama, 2000 an den Bodensee gezogen, seit 12 Jahren in Partnerschaft mit Ralph
Ralph
Während meiner Studienzeit hatte ich viel Kontakt mit Gemeinschaften im Studentenwohnheim und am Wochenende im »Häusle« unserem privat angemieteten Bauernhof in dem wir Veranstaltungen und Treffen am Wochenende organisierten. Anschließend individuell mit meiner Frau und vielen Kontakten mit Freunden, weil meine damalige Partnerin nicht gemeinschaftlich leben wollte und auch keine Zeit vorhanden war sich diesem Thema zu widmen.
Carmen
Ganz ursprünglich lebte ich in Bayern in der ganz »normalen« Familienform. Im Jahr 2000 bin ich nach Reutlingen umgezogen, wohnte dort mit Jürgen zusammen zur Miete. Im Gebäude, wo Jürgen seine Firma hatte. WG-Erfahrungen hatte ich vorher keine.
Jürgen
Aufgewachsen und bis zum 64sten Lebensjahr gelebt habe ich in Reutlingen, Baden-Württemberg. Habe selbstständig ein Bauunternehmen geleitet. Leider war da für Freundschaften und Privatleben nur ein begrenzter Zeitrahmen. Umso mehr bietet uns hier auch die Wohngemeinschaft eine familiäre und kreative Basis, sich an einem neuen Ort anzusiedeln und zu verwurzeln. Leider scheinen sich zwar einige Menschen, als Idee und gedanklicher Ansatz, mit dem Thema Wohngemeinschaft auseinander zu setzen (meist in der Altersgruppe 50-65 Jahre), fühlen sich aber unsicher und noch in vielen Abhängigkeiten gebunden. Unsicherheiten, Abhängigkeiten, Prioritäten, persönliche Ansprüche und Vorstellungen usw. hemmen die Entschlussfassung sich in das Ausprobieren einzulassen, stark ein. Um ein Gespür zu bekommen, braucht es das sich einlassen, um diese Balance zwischen gemeinschaftlichem und privatem Leben zu erkunden. Deshalb auch die Möglichkeiten des »Schnupperwohnens« über z. B. 10-12 Tage im Wohnprojekt, zum Austausch kennen lernen usw. Wir würden uns sehr wünschen, dass auch jüngere Menschen sich trauen, so eine Lebensform zu erkunden. Denn letztendlich müssen wir bei uns selbst anfangen, wenn wir etwas zum Besseren verändern wollen.
Wie seid Ihr vorgegangen – von der ersten Idee bis Stand heute?
Jacqueline und Ralph haben 2010 begonnen über Anzeigen und Flugblätter immer wieder interessierte Gruppen aufzubauen. Wenn es allerdings »ans Eingemachte« ging, wurde es eng und man trennte sich. Deshalb haben wir uns 2012 entschieden selbst ein Objekt zu kaufen. Unser Haus war rasch mit 13 Personen gefüllt. Mangelnde Konzeption und die fehlende Kennenlernphase führten innerhalb eines Jahres dazu, dass man sich trennte. Dann haben wir über Wohnprojekttreffen, Anzeigen, das damalige Portal Wohnen plus, etc. immer wieder neue Bewohner gefunden. Unser Café Lädele haben wir 2019 eröffnet und es wurde sofort sehr gut angenommen. Wir sind überzeugt, ohne die Situation um Corona, hätten wir durch die Vernetzung nach außen, viele neue Kontakte knüpfen können.
Was gab oder gibt es für Hürden?
Mitbewohner zu finden war und ist die größte Herausforderung. Die meisten Interessenten wollen zwar eine Gemeinschaft, aber dennoch eher unverbindlich bleiben. Also eher die Projekte, die um die 20 Neubauwohnungen haben und einen kleinen Gemeinschaftsraum, den man gelegentlich nutzen kann.
Wir hingegen bieten bei ca. 700qm Flächen allein ein Drittel an Gemeinschaftsflächen (z.B. Gemeinschaftsküche, Werkstatt, Kreativzimmer, Kaminzimmer, Café Lädele, Lobby, Gerätehaus), die genutzt und versorgt werden möchten und bereits das ist eine Art Verpflichtung.
Was lebt Ihr für eine Gemeinschaft? Was ist Euch wichtig?
Wir leben wie eine große Wahlfamilie. Jeder hat seine eigene Wohnung, wir setzen Projekte gemeinsam um, besprechen wöchentlich nach einem gemeinsamen Essen unsere Woche. Was muss erledigt werden, welche Themen müssen besprochen werden, was möchten wir gemeinsam unternehmen, bekommen wir Besuch, wie geht es uns, ist eine Veranstaltung zu planen.
Unser Café Lädele öffnet an Sonn-und Feiertagen. Jeder Bewohner trägt einen Teil dazu bei. Natürlich gibt es auch die ganz spontanen Unternehmungen oder Unterstützungen. Uns ist es wichtig, dass sich unsere Mitbewohner hier zu Hause fühlen und sich mit Freude einbringen.
Wie habt Ihr Euch gefunden?
Über unser Wohnprojekttreffen.
Was muss ich mitbringen, um bei Euch mitzumachen?
Du bist gerne mit anderen zusammen, zuverlässig und hilfsbereit, bringst dich mind. 5-10 Stunden in der Woche ein, kannst teilen, bist achtsam und kommunikativ. Wir gehen sehr bewusst mit Ressourcen um … Strom, Heizung, Wasser… wir reparieren lieber statt neu kaufen.
Wo seid Ihr jetzt angekommen?
Wir haben ein gemütlich eingerichtetes Haus in schönster Natur, wir lieben unseren Garten, haben gemeinsam eine Struktur aufgebaut … es läuft…wir sind angekommen in unserem Zuhause.
Was sind Eure Pläne?
Mehr Bewohner zu finden, die unsere Idee teilen und ergänzen, unser Café Lädele wieder öffnen zu können und Veranstaltungen durchführen zu können.
Was möchtet ihr anderen mit auf den Weg geben?
Für Suchende:
Es gibt viele Arten von Gemeinschaften, deshalb ist es wichtig, erst einmal herauszufiltern, welche Art der Gemeinschaft zu einem passt. Genau zu wissen, was einem gut tut, die eigenen Bedürfnisse kennen.
Für Gründer:
Wer selbst eine Gemeinschaft gründen möchte braucht sehr viel Ausdauer, Optimismus, Geduld, ein Konzept und ein bisschen Geld.
Was sind Eure bisherigen Erfahrungen mit bring-together?
Wir sind dankbar, dass ihr diese Plattform ins Leben gerufen habt. Vielen Dank für eure Leidenschaft und Kreativität. Nach Auswertung der Rückmeldungen scheut die überwiegende Mehrheit der Suchenden den zeitlichen und finanziellen Aufwand selbst das geeignete Projekt zu finden. Etwa 80 % unserer Interessenten / Besucher schreiben wir über eure Plattform selbst an.
Was wünscht Ihr Euch für die Zukunft?
… dass sich unser Haus mit den Menschen füllt, die sich bei uns wirklich zu Hause fühlen und im besten Fall auf mehr Jugend und Menschen, die das Gemeinsame aktiv fördern.
Mehr lesen: Fakten über Wohnprojekte
Erstellt von Mary-Anne Kockel | Linkedin folgen